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Anders sein

Ich bin Amelotatist, ein Mensch, der sich zu Personen mit Behinderungen hingezogen fühlt. Lange Zeit verschwieg ich diese Neigung vor meiner Freundin Vera. Es war nicht einfach für mich, mit einer Frau die ich wohl sehr liebe, die aber „völlig normal“, das heißt ohne Behinderung war, zusammenzuleben. Sie war geschockt, als ich all meinen Mut zusammennahm und mich outete. Langsam führte ich sie in die Umstände meiner Veranlagung ein mit dem Ziel, sie allmählich zu diversen Fesselspielen als Ersatz für echte Behinderung überreden.

Mehr und mehr war sie dazu auch bereit. Allmählich, selbst von mir vorerst unbemerkt, fand sie immer mehr Spaß daran, auf einem Bein herumzuhüpfen. Es war mir eine Wonne, dass sie unaufgefordert mit hochgebundenem Bein aus dem Badezimmer kam. Irgendwann hopste sie dann oft ganze Sonntage auf nur einem Bein herum. Ich machte mir keine Gedanken um ihr immer stärker werdendes Faible, ich wertete es als Liebesbeweis. Immerhin kam es doch meiner eigenen Neigung sehr gelegen.

Selbst als sie mich bat, ihr doch Krücken zu besorgen, kamen mir keine Bedenken. Hocherfreut kaufte ich im einschlägigen Fachhandel ein Paar dieser Dinger in dezentem Dunkelblau ohne mich zu fragen, warum sie das nicht selber tat. Erst als sie den Wunsch äußerte, doch einmal auch in der Öffentlichkeit als Einbeinige aufzutreten, fragte ich mich, ob hier nicht Grenzen der Ästhetik überschritten werden. Rasch zerstreute sie aber meine Einwände und im Grunde freute ich mich über ihre Aktivitäten.

Unsere Vorliebe wurde sosehr zur Passion, dass Vera immer öfter den Wunsch äußerte, unser Spiel doch in aller Öffentlichkeit zu treiben. Allen Ernstes schlug sie vor, einen Auslagenbummel als Einbeinige zu machen. Einen solchen Wunsch hätte ich nie zu äußern gewagt, aber die Freude, mit einer einbeinigen Frau auszugehen, war stärker als alle Bedenken. Ein dicker Wintermantel war uns behilflich, den Schwindel auszuführen. Auch kamen ihre langen, schlanken Beine unserem Unterfangen sehr entgegen. In einem kleinen Städtchen fernab von unserem Wohnort präsentierte sich Vera erstmals in der Öffentlichkeit als Einbeinige auf Krücken.

Zuhause schon hatten wir das Bein hochgebunden und sorgfältig bandagiert. Der dazugehörige Fuß wurde in einen Ballettschuh gesteckt und mittels daran angenähter Bänder so fest als möglich an das Gesäß gebunden. Natürlich hätte jeder aufmerksame Beobachter die Mogelei bemerkt, auch wenn der Wintermantel allerhand kaschierte. Wir verließen uns darauf, dass kaum jemand auf die Idee kommen würde, dass sich eine junge Frau absichtlich nur mit einem Bein zeigen möchte. Wir genossen es beide, dass Vera ob ihrer „Behinderung“ von den meisten Leuten unverhohlen angestarrt wurde.

Bereitwillig machten die – zugegebenermaßen wenigen Leute – ihr Platz oder versuchte gar der „armen“ jungen Frau behilflich zu sein. Damit war eine Hemmschwelle überschritten und Vera wurde immer dreister. Immer länger wurden die Zeiträume, in denen sie das Hochgebundene Bein ertragen konnte. Bald schon trauten wir uns auch in Gaststätten und Restaurants und im nächsten Winter verbrachten wir ganze Wochenenden auswärts mit Vera als Einbeinige. Zuhause wurde ihr hochgebundenes Bein zur Selbstverständlichkeit. Immer mehr verbesserten wir gemeinsam die Technik, ihren Fuß und Unterschenkel zu verbergen.

Die stete Übung erweiterte den Bewegungsumfang ihres Knies und die Muskulatur wurde geschmeidiger, was unseren Intentionen sehr entgegenkam. Dabei tauchten wir immer tiefer in unsere Manie ein, Immer mehr verstrickten sich unsere Gedanken darin, wie man die Einbeinigkeit noch besser präsentieren könnte. Wir bedauerten sehr, dass wir keine Möglichkeit fanden, um auch in den Sommermonaten, bei leichter Bekleidung unserem „Hobby“ frönen zu können. Eines Abends hatte Vera den Tisch feierlich gedeckt. Ich fragte mich, welchen Festtag ich übersehen hätte, hatte doch niemand Geburtstag und auch der Hochzeitstag war in weiter Ferne.

Wir aßen zusammen bei Kerzenlicht. Meine Frage, was die Inszenierung bezwecken solle, blieb zunächst unbeantwortet. Erst als wir uns in unsere Schmuseecke zurückgezogen hatten, eröffnete mir Vera ihre Absichten: Sie wolle sich ihr Bein amputieren lassen und hätte auch schon jemanden gefunden, der die Operation an ihr durchführen würde. Ich war bisher derart auf ihre nur scheinbare Einbeinigkeit konzentriert, dass ich den Wahnsinn dieser Absicht gar nicht erkannte. Vera erklärte mir wortreich dazu, dass dies ja nur die logische Fortsetzung unserer bisherigen Entwicklung wäre.

Sie hätte ihr Bein ohnehin meist hochgebunden und selbst in der Öffentlichkeit wäre sie immer öfter auf nur einem Bein unterwegs. Nun wolle sie endlich auch in der warmen Jahreszeit einbeinig sein können und endlich wissen wie es ist, wirklich nur ein Bein zu haben. Alles erschien sehr logisch – aber wahnsinnig. Erst als sie mich fragte, an welcher Stelle sie ihr Bein abschneiden solle, gleich in der Hüfte oder doch nur ein ganz kurzer Stumpf, ganz in der Art als ob es sich um das Kürzen des Rocksaumes handeln würde, kamen mir erste Bedenken.

Ich wies sie darauf hin, dass dies ein unumkehrbarer Akt sein würde, mit dem sie bis an ihr Lebensende zurechtkommen müsste. Sie erwies sich aber als durchaus entschlossen und drohte mir sogar, falls ich der Amputation nicht zustimmen würde, einen entsprechenden Unfall zu inszenieren. Vera hatte via Internet auch ein Institut ausfindig gemacht, welches ihren Wunsch erfüllen würde. Da war aber noch die nicht unwesentliche Frage, warum sie um ihr Bein kam. Wie sollte man den guten Leuten überhaupt erklären, dass sie nun nur mehr ein Bein hat? Ihren Mitmenschen könnte man ja noch einreden, dass sie eine böse Krankheit befallen hatte – aber was ist mit dem Hausarzt? Eine weitere Sorge war es zu diesem Zeitpunkt, wie sie es anstellen sollte, nur ja keine Prothese verwenden zu müssen.

Sie hatte Angst, dass ihre Umgebung ihr eine Prothese aufschwatzen oder gar aufdrängen würde. Die Wahrheit wird man ihnen auf diese Fragen nicht sagen können. Also schmiedeten wir ein Lügengebilde. Wir erzählten allen, eine Reise zu machen, was ja noch irgendwie stimmte. Bei dieser Reise wird nun Vera bei einem Verkehrsunfall ihr Bein verlieren, so jedenfalls die offizielle Version. Neben dem Eingang in das Institut, welches Vera für die Durchführung ihres Vorhabens ausfindig gemacht hatte, prangte eine Messingtafel mit der sinnigen Aufschrift „Beauty-Chirurgie“.

Haupt-sächlich lebte man dort von Fettabsaugungen, Brustvergrößerungen und anderen Schönheitsoperationen. Man entfernte aber auch Fettschürzen, straffte schlaffe Gesichter oder entfernte nicht mehr gewünschte Tattoos. Wir erfuhren aber auch, dass Vera erstaunlicherweise nicht die erste Frau war, die sich ein Bein nehmen ließ. Wie um diese Aussage zu bestätigen, legte man Vera in ein Zimmer zu einer etwa Vierzigjährigen, auf der eben ihr zweites Bein abgenommen worden war. Als ich Vera gut in der Klinik aufgenommen wusste, zog ich mich zurück und begab mich auf die suche nach einem Autosalon.

Wir wollten ja einen Verkehrsunfall vortäuschen und zu diesem Zwecke musste ich vor Ort meinen Wagen verkaufen. Mit dieser Aufgabe war mein Kopf bis zum Abend beschäftigt. Dann aber, allein in der Hotelbar bei einem Glas Wein, kreisten meine Gedanken um Vera und ihre Absicht. Gewiss, von nichts träumte ich mehr als von einer Beinamputierten. Ich selbst wollte doch mein Leben an der Seite einer Einbeinigen verbringen und das sollte Vera sein. Aber hätte ich sie nicht intensiver auf mögliche Folgen hinweisen sollen? Ist es nicht Wahnsinn, ein gesundes Bein zu amputieren? Ist es nicht Wahnsinn zuzulassen, wie sich eine junge Frau verstümmeln lässt? Selbstverstümmelung! Ja, es war Selbstverstümmelung, was Vera vorhatte! Aber wir waren schon viel zu weit gegangen.

Am nächsten Tag sprach ich noch einmal eindringlich mit Vera. Doch fast hätte sie mir meine Einwände und Warnungen übel genommen. Sie wollte ihr Bein weghaben und war davon nicht mehr abzubringen. Als ich sie zu guter Letzt noch auf ihre Bettnachbarin verwies, griff ich vollends daneben. Ich wollte Vera die Möglichkeit vor Augen führen, dass sie durch Krankheit oder Unfall ja auch noch das zweite Bein verlieren könnte und es ihr dann ebenso ergehen würde wie ihrer Zimmergenossin, dass sie dann überhaupt keine Beine mehr habe.

Das war ein Fehler. Vera und ihr Zimmergenossin waren gleich am ersten Tag ins Gespräch gekommen und hatten Vertrauen zueinander gefunden. Das hatte zufolge, dass die beiden völlig offen über den Grund ihres Aufenthaltes in diesem Hause sprachen. Als Vera beiläufig erwähnte, dass sie hier ist, um sich ein Bein amputieren zu lassen, erzählte ihr Olga, dass sie sich eben ihr zweites Bein hatte nehmen lassen. Sie freute sich nun jemanden zu haben der Verständnis dafür hatte, dass sie nun ihr Glück darin gefunden hatte, endlich gar keine Beine mehr zu haben!Würde ich dies in einem Roman, einer Kurzgeschichte lesen, ich würde die Schrift zur Seite legen da ich der Meinung wäre, dem Autor ist seine Phantasie durchgegangen.

So aber konnte ich mich selbst davon überzeugen, dass diese Frau freiwillig auf ihre Beine verzichtete und ein Leben im Rollstuhl den Vorzug gab! Ich musste wieder einmal zur Kenntnis nehmen, dass nichts auf der Welt unmöglich ist. Allerdings hatte Olga eine andere Warnung für Vera parat: Sie warnte davor, süchtig auf Amputationen zu werden. Sie meinte, dass Vera es nie ernsthaft bereuen würde, sich für ein Leben mit nur einem Bein entschieden zu haben.

Aber sie warnte davor, dass ihr dies bald nicht reichen würde und immer weitere Amputationen haben möchte. So habe sie zur Abnahme ihres ersten Beines ihr Mann noch sanft drängen müssen. Jetzt, beim zweiten Bein, war es ihr eigener Wunsch und Wille und jetzt habe sie sich gegenüber den Bedenken ihres Mannes durchsetzen müssen. Es war sicher nicht so, dass auch nur eine der beiden Frauen auf Anhieb sagen konnte, warum sie nur ein Bein oder gar keine Beine haben wollten.

Der eigentliche Grund war zunächst sehr unklar, nämlich weil man es eben so haben wollte. Erst nach und nach kristallisierten sich zwei Motive heraus. Ein Motiv scheint der irreale Wunsch nach Unfähigkeit sein. Nicht alles machen zu können, nicht einfach losgehen können, nicht weglaufen zu können, die Hände nicht immer frei zu haben, manche Sportarten nur unter erheblichem Umständen ausüben zu können, das stellte in der Diskussion ein starkes Motiv für die beiden Frauen dar.

Hier war es auch wo Olga warnte: Mit der Zeit findet man für jedes Problem eine Lösung. Man empfindet es als selbstverständlich, nur ein Bein zu haben und „es“ daher eben „so“ zu machen. „Es“ stellt irgendwann keine Herausforderung mehr dar, liefert nicht mehr den erwünschten Kick. So war es jedenfalls bei Olga und damit reifte in ihr der Entschluss, auch auf das zweite Bein zu verzichten, um das erwünschte Unvermögen wiederherzustellen. Als zweites sehr starkes Motiv erwies sich der Wunsch nach dem Anderssein.

Normalerweise hat eine Frau einen Kopf, einen Rumpf, zwei Arme und zwei Beine. Die Proportionen, in denen diese Körperteile zueinander stehen, ihre Symmetrie und ihre Gestaltung macht sie zu einer schönen oder einer hässlichen Frau oder sie liegt im Aussehen irgendwo dazwischen. Olga und Vera kann man als gutaussehende Frauen bezeichnen. Ihre ansprechende Erscheinung nun damit zu stören, indem man die Symmetrie zerstört, ist mit dem Abbrechen einer Verzierung bei einem Kunstwerk vergleichbar. Sie wollen nicht so aussehen, wie es die Mitmenschen erwarten, sie wollen mit ihrer Asymmetrie schockieren.

Unbewusst wollen sie in ihren Mitmenschen die Stimmung erzeugen: „Sie wäre ja sehr hübsch, wenn nicht…, leider, …schade!“Schon zwei Tage nach dem Eintreffen in der Klinik wurde Veras größter Wunsch erfüllt. Sie war stark geschwächt von der Operation, fühlte sich matt und hatte – Gott sei Dank nur leichte – Schmerzen. Aber sie war glücklich, lächelte mich mit Tränen in den Augen an und hauchte: „Es ist weg!“Dann kam endlich das erste Mal aufstehen.

Vera hatte es kaum erwarten können zu fühlen wie es ist, wirklich nur mehr auf einem Bein stehen zu können, wirklich nur mehr ein Bein zu haben. In den nächsten Tagen setzte sie alles daran, soweit wieder zu Kräften zu kommen, um jederzeit wieder das Bett verlassen zu können. Leider konnte sie sich nur mit Krücken fortbewegen. Sie wäre viel lieber ohne diese auf ihrem einem Bein gehüpft, das aber verursachte zu große Schmerzen im Stumpf.

In der weiteren Folge gab es zwar zum Glück keine Komplikationen, doch gestaltete sich die Heimreise als schwieriger als erwartet. Wir waren der Meinung, dass für Vera das Krückengehen kein Problem darstellen dürfte, war sie doch schon so viel damit unterwegs gewesen, dass ihre Armmuskulatur wesentlich stärker geworden war. Der operative Eingriff hatte aber viel ihrer Kondition gekostet und da nun das Bein wirklich weg war, war die Balance eine wesentlich andere. Sie war unsicher und fürchtete plötzlich Stufen und Unebenheiten.

Um unsere Tarnung aufrecht zu erhalten, reisten wir mit der Bahn nachhause. Das erwies sich als keine gute Idee, wir mussten relativ viel laufen, von einem Bahnsteig zum anderen umsteigen, kurz alles das, was Vera fürchtete und was ihr Kraft kostete. Wie zur Belohnung durfte sie aber gleich das Mitgefühl der mitreisenden Passagiere entgegennehmen. Vera wirkte ob der Reisestrapazen etwas groggy und das honorierte man, indem man sie mit Bedauern überschüttete. Diese arme junge Frau, die nun ihr Leben mit nur einem Bein fristen musste!Zuhause wurde unsere Story von allen bedenkenlos angenommen.

Wie hätte auch jemand auf die Idee kommen sollen, dass Vera ihr Bein freiwillig abgegeben hatte? Nur, dass sie keine Prothese verwenden könne, das war nicht allen koscher. Wie auch immer, Vera kleidete sich vornehmlich mit Kleidern und Röcken, die gerade halt ihren Stummel verhüllten und ließ sich vom verehrten Publikum ob ihrer Einbeinigkeit einesteils ausgiebig bewundern und andererseits ausgiebig bedauern. Es stellte sich heraus, dass bei Vera, als sie mit hochgebundenem Bein unterwegs war, völlig falsche Vorstellungen vom Leben mit nur einem Bein entstanden waren.

Jetzt, wo das Bein wirklich weg war, war der Schwerpunkt ein völlig anderer und Vera war vor allem beim Stiegen steigen mit den Krücken unsicher und fürchtete ständig, hinzufallen. Viel lieber legte sie ihre Wege gleich ohne Krücken, also hüpfend zurück. Um die Stiege vom Schlafzimmer in das Erdgeschoss einigermaßen angstfrei zu überwinden, quälte sie sich schon abends ohne Krücken hoch und behalf sich morgens hinunter nur mit dem Stiegengeländer. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie meist auch schon einen anderen Frust hinter sich: Nach dem Aufwachen hinaus aufs Klo, da war früher noch nie das Bein hochgebunden.

Jetzt hatte sie auch diesen Weg schon auf einem Bein hüpfend zu bewältigen. Wenngleich wir auch im Obergeschoss eine Toilette haben und der Weg daher nicht allzu weit ist, hat sie starke Probleme, wenn sie mit voller Blase hüpfen muss. Die Hausarbeit, das Einkaufen, an vieles hatte sie gedacht und sich überlegt, ob und wie sie es mit nur einem Bein bewältigen würde. Jetzt waren da aber trotzdem eine Vielzahl von Verrichtungen, die immer einfach geschehen sind und die vorher nicht aufgefallen waren, weil sie nie zu Zeiten anfielen, an denen Vera das Bein hochgebunden hatte.

Diese Tätigkeiten wurden plötzlich zu kleinen Problemen und beeinträchtigten immer öfter Veras Laune. Eines Tages war es dann soweit, erstmals wurde der Wunsch nach einer Prothese ausgesprochen. Energisch verwies ich Vera auf unsere Abmachung, ihr Versprechen, dass sie nie eine Prothese benützen würde. Ja, sie hatte sogar von mir gefordert, niemals ein solches Hilfsmittel zuzulassen. Kleinlaut gestand sie diese Zusage ein, jammerte aber dessen ungeachtet weiter über ihre Behinderung. Ich verbat mir dieses Gezeter, es war ihr eigener Vorschlag und Wunsch, das Bein amputieren zu lassen! Heulend zog sie sich nach solchen Debatten zurück, nicht ohne mir zu versichern, welcher Unmensch ich wäre, einer einbeinigen Frau die Unterstützung zu verwehren.

Dabei tat sie mir doch oftmals leid. Es war wirklich manchmal sehr schwierig für sie, mit nur einem Bein zurechtzukommen. Aber sie selbst hatte es ja so gewollt. Es waren nicht die großen Dinge, die sie die ihr die Lust an der Einbeinigkeit vergehen ließen. Angestarrt zu werden wegen ihres fehlenden Beines, das wollte sie ja gerade. Aber dass im Büro oder sonst wo dumme Bemerkungen gemacht werden (die Kollegen riefen sie „Stummelchen“, „Hopsi“ oder „Frau Einbein“), damit hatte sie nicht gerechnet.

Dass die Hausarbeit beschwerlicher geworden war und Sport nur mehr eingeschränkt betrieben werden konnte, das war kalkuliert. Aber vom Regen überrascht zu werden und keinen Schirm tragen zu können, das war schon ärgerlich. Jedes Mal die Länge der Krücken verstellen, je nachdem ob sie einen flachen oder einen Schuh mit hohem Absatz trug – dem konnte leicht abgeholfen werden, indem ich weitere Krückenpaare kaufte. Aber als sie eines Tages einen Infekt mit hohem Fieber bekam, als sie des Nachts mit Schüttelfrost aufwachte und die Toilette aufsuchen musste um sich zu übergeben, da war es vorbei mit ihrer Vorliebe für andauernde Einbeinigkeit.

Vera lieferte ein Bild des Jammers. Die Krücken waren unten im Wohnzimmer und so quälte sie sich auf ihrem Bein hüpfend und an der Wand entlang tastend hinaus aufs Örtchen. Niederknien ging nicht, sie sank irgendwie zu Boden und kotzte das Becken voll. Da meldete auch das andere Ende Material. Ich half ihr auf, sie setzte sich auf die Brille und ich drückte ihr ein Plastikschaff in die Hände, damit sie beidseitig auswerfen konnte.

Kaum genesen war sie nicht mehr zurückzuhalten. Es sei endgültig soweit, sie werde sich eine Prothese anschaffen. Ich pochte auf ihre eigene Aussage, niemals eine Prothese verwenden zu wollen, geriet aber immer mehr in Argumentationsnotstand. Als ich mich schon auf der Verliererstraße sah, lenkte sie plötzlich ein. Es muss doch gar keine richtige Prothese sein, sie brachte den Begriff Pegleg ins Spiel. Warum war ich nicht selbst draufgekommen!?Das war ein brauchbarer Kompromiss. Ein Pegleg, wörtlich übersetzt ein Stützbein, also ein Stelzfuß, steif und unten mit einem Gummistoppel, war eine akzeptable Alternative zu einer richtigen Prothese.

Es ist lediglich eine Gehhilfe, die sie nur zuhause verwenden konnte, denn mit so einem stockähnlichen Ungetüm würde sie nicht auf die Straße gehen, dessen war ich mir sicher. Wo aber treibt man so etwas auf?In den heimischen Orthopädiewerkstätten wurden wir mit unserem Ansinnen höflich bestaunt bis zurechtgewiesen, denn so ein Unding ist nicht nur eine Zumutung für die Trägerin, sondern orthopädisch auch noch äußerst abträglich. Man konnte nicht verstehen, warum Vera nicht eine ordentliche Prothese verwendet und wir mussten von den Fachleuten, die es durchwegs ehrlich meinten, beinahe fliehen.

In einem östlichen Nachbar- Nachbarland erstanden wir dann endlich so ein Ding. Der Effekt war ebenso überraschend wie umwerfend – zumindest für mich. Schon dort in dem Geschäft, wo sie dieses Ungetüm zum ersten Mal anprobierte, gebärdete sie sich wie ein kleines Mädchen zu Weihnachten. „Endlich wieder zwei Beine“, jubelte sie zu meinem größten Erstaunen und stelzte hurtig in der kleinen Werkstatt herum, trabte hinaus auf die Dorfstraße und machte sich auf den Weg zum Wagen.

Mir blieb nur noch zu bezahlen und ihr zu folgen.


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